Wir haben bisher nie gewartet, dass der oder die Älteste am Tisch als Erste einen Happen nahm oder etwas trank. An diesem Tag sollte es aber anders sein. Wir warteten, selbst mein Vater, damit der Älteste am Tisch, das war ein älterer Herr aus Ostwestfalen, als Erster einen Schluck von seinem Wasser nahm.
Es war Sommer im lieben Deutschland und Deutschland war für gewöhnlich nicht berühmt für seine heißen Sommertage. In den letzten Jahren hat sich das aber verändert, Stichwort Klimawandlung. Warum aber nahmen wir diese wenigen paar Sekunden des Verdurstens in Kauf? War es, weil wir Vermutungen über seine Erwartungen hatten?
Wir dachten, dass er dachte, dass wir darauf warteten, dass er als Erster einen Schluck nimmt. Und woher kam unsere Vermutung? Wir dachten, dass er genug Zeitungsartikel und Angebote des kulturellen Infotainments konsumiert hatte, um uns deutlich traditionsbewusster einzuordnen, als wir in Wirklichkeit waren. Und allein diese Erwartungshaltung reichte, damit wir uns so verhielten, wie er es erwartet hatte.
Es ist wie mit dem türkischen Spruch:
„Glaub’ nicht an die Vorhersage, aber verbleib’ auch nicht ohne eine Vorhersage.“
Dieser wird stärker bei Fans von Wahrsagerei benutzt als von solchen Leuten, die nicht abergläubig sind.
Benutzt wird diese Redewendung um Wahrsagerei zu relativieren, aber trotzdem hilft es nicht des Aberglaubens ab. Es ist wie eine Rechtfertigung.
Die Rechtfertigung bleibt aber leer, denn sie erklärt nicht, warum eine Person trotzdem eine Weissagung braucht. Es klingt wie ein einziges Gesetz: „Glaub’ nicht an die Vorhersage, aber verbleib’ auch nicht ohne eine Vorhersage“. In der Panik über das, was geschehen könnte, wenn die Person ohne eine Wahrsagung verbleibt, vergisst das Menschenskind, warum es nicht ohne eine Wahrsagung verbleiben soll.
Ähnlich leer sind die formelhaften Phrasen der Wahrsagerei. Weiß der Mensch einmal, dass etwas Gutes oder Schlechtes oder etwas Überraschendes passieren soll, dann reißt sie die Augen und die Ohren weit auf, um ja mitzubekommen, welches gute oder schlechte oder überraschende Ereignis denn nun auftreten wird. Und in dieser Erwartungshaltung erfüllt sich die eine oder andere Vorhersage. Nicht, weil die Weissagung sich aus sich heraus erfüllen könnte, sondern weil es die Menschen erwarten.
Zurück zu dem Esstisch, an dem wir saßen. Das kurze Abwarten, ein nachdenklicher Blick, einfach alles an dem Mann war uns eine Bestätigung seiner Erwartung. Dabei war er nicht allein in seiner Erwartungshaltung, sondern auch wir erwarteten etwas. Wir erwarteten, dass er erwartete, dass wir uns nach einem bestimmten Muster verhielten. Und so kam es, dass wir warteten, bis zuerst der Älteste am Tisch von seinem Glas trank. Davor hatten wir das nie getan. Danach taten wir es nie wieder. Aber an jenem Tag taten wir es. Und niemand weiß, warum.