Meine Schwester hat Besuch. Und ich würde am Liebsten in ihr Zimmer platzen und sie ausfragen. Ich meine die Besucherin. Erst die W-Fragen und dann alle anderen Fragen, die sich ergeben. Wer ist sie? Wie groß ist sie? Wie viel wiegt sie? Solche Fragen halt.
Dabei bin ich gar nicht so neugierig, wie manche jetzt meinen mögen. Ich möchte mir nur ein Bild von den Leuten machen, die hier ein- und ausgehen. Die Kanzlerin möchte ja auch wissen, was im Land der Dichter und Denker so vorgeht. Es gibt ein Amt, dass sich ausschließlich um Statistiken kümmert: Bruttoinlandsprodukt, Bevölkerungswachstum, Auswanderungen, Rückwanderungen etc. Jeder Mensch hat ein Interesse daran zu wissen, welche Bevölkerungsgrüppchen bevorzugt im eigenen Heimat ein- und ausgehen.
Bestimmt reden die beiden jetzt über Gott und die Welt. Alle reden über Gott und die Welt. Das Schlimme dabei, über Gott und die Welt zu reden ist, dass alle sagen, dass sie über Gott und die Welt reden, niemand jedoch in Wirklichkeit über Gott und die Welt redet. Was würde da nicht alles zusammenkommen an Gesprächsstoff aus der Theologie, der Philosophie und so weiter. Dann würde ich auch mal fragen wollen, warum wir immer in der männlichen Form von Gott reden. Hat er als übermenschliches Wesen nicht eben doch kein Geschlecht? Aber gut lassen wir das Thema lieber ruhen, denn bei Glaubensdingen werden manche furchtbar empfindlich. Nur eins noch: Ich glaube, auch da wo die Leute an einen geschlechtslosen Gott glauben, glauben sie meist, dass er die Männer bevorzugt. Sauerei! Jetzt ist aber wirklich Schluss!
Das Hauptanliegen dieses Blogartikels ist, dass meine Schwester Besuch hat und dass ich wissen möchte, wer die Besucherin ist. Was wenn wir uns auf dem Weg zur Toilette begegnen, also die Besucherin und ich? Am Besten ich verlasse nicht mehr mein Zimmer. Aber das geht nicht, was wenn ich dringend auf die Toilette muss? Die haben da oben eine eigene Toilette. Wir können uns gar nicht begegnen. Doch wenn wir uns begegnen würden, was würde da nicht alles passieren? Ja, vorstellen würde ich mich, als die kuriose ältere Schwester Merve, die total Aufgedrehte, die mit den schlimmsten Schreibmanieren der Welt. Nie pünktlich, nie routiniert, aber doch irgendwann da. Das war’s dann mit dem ersten Eindruck. So eine Verschwendung! So viel Mühe wie sich andere um den ersten Eindruck geben, so viel Mühe gebe ich mir um die freie Meinungsbildung. Demokratie! Sollen die anderen doch denken was sie wollen. Oder besser gesagt: Dann geht doch zu Brutto! (Oder zu Brutus. Brutus hätte an dieser Stelle auch gepasst.)
Was in Wirklichkeit passiert ist: Nichts. Weder eine Begegnung auf dem Weg zum WC, noch eine himmelhoch jauchzende Einführung meiner Person durch mich höchstselbst. Und überhaupt, was sollte ich ihr denn sagen, der Besucherin meiner Schwester. Also über mich meine ich. So interessant bin ich gar nicht, dass es etwas über mich zu sagen gäbe. „Guten Abend auch ihr beiden, ich bin die ältere Schwester Merve. Ja, genau die, die morgens schon gestresst aufwacht und ein Weilchen braucht, bis sie Kraft gesammelt hat für den anstehenden Tag und Kaffee trinkt bis selbst ein Pferd von dem Koffein, intus tot umfällt.“ Das lässt ja noch nicht einmal mehr Interpretationsraum übrig, es ist so konkret, so öffentlich.
Aber da höre ich sie auch schon gehen, die Besucherin meiner Schwester. Nachdem sie einige Worte mit Mutter gewechselt hat. Schön, wenn sich Probleme von selbst lösen.
Der Blogbeitrag „Meine Schwester hat Besuch“ erschien zuerst auf Mimis Journal, wurde überarbeitet und hier neu veröffentlicht.